Erich Hackl zur Eröffnung
30. Festival DER NEUE HEIMATFILM
23. August 2017
Stichworte zum Thema Heimat, Land und Leute
ARBEIT Wer über ungetrübte Erinnerungen seiner Vorfahren verfügt, wird das Leben auf dem Land nicht a priori für das gesündere halten. Berichte von Mühsal und Armut, beides gemildert durch das Versprechen auf ein Jenseits, in dem die Äcker weniger steinig sind, die Rücken weniger gekrümmt... Aber ebenso sehr wie die detailfreudigen Schilderungen meiner Eltern, die nicht weit von hier, in Weitersfelden und St. Leonhard, aufgewachsen sind, hat mich ein erfindungsreiches Gedicht des Schriftstellers Wulf Kirsten beeindruckt. Kirsten lebt seit langem in Weimar, stammt jedoch aus der Gegend um Meißen, deren Massiv wie das Mühlviertel aus Granit besteht, und ist dem ländlichen Österreich wie dessen kritischen Chronisten – vor allen anderen dem Kärntner Michael Guttenbrunner, dem Oberösterreicher Franz Kain – eng verbunden gewesen. Kirstens Vater war Steinmetz, seine Mutter ging zu Bauern arbeiten. Sie hatten fünf Kinder und ein Stück Land, das ihnen im Zuge der Bodenreform in der Sowjetisch Besetzten Zone 1945 übereignet wurde; das Gedicht „die ackerwalze“ handelt davon, wie sie mangels Zugviehs sich selbst ins Joch spannen und statt einer eisernen Walze, die nicht aufzutreiben ist, eine gestürzte Grabsäule übers Feld ziehen, „bergauf, bergunter“, um Erdklumpen zu zerdrücken, das Saatbeet zu bereiten. Ihre Schinderei ist, im Gedicht, aufgehoben in der im Lehm sich abzeichnenden Inschrift auf dem gerundeten rollenden Grabstein: „geliebt, beweint und unvergessen“.
BRÜDERLICHKEIT Ohne Verweis auf ihre Seelenlandschaft lassen sich Leben, Werk und Gesinnung der Linzer Arbeiterschriftstellerin Henriette Haill nicht begreifen. Im Mühlviertel, hat sie einmal gesagt, sei sie aufgegangen, „als wenn ich es selbst gewesen wäre. Das Hohe, das Gigantische ist mir nichts, mir ist nur das Kleine, wie ich selbst bin, etwas. Die Hügel, die kleinen Erhebungen, das Herbe. Das Mühlviertel ist ja herb im Winter. Mich hat das Herbe so angezogen.“ Darüber hat sie unzählige Gedichte, auch in Mundart, und viele Erzählungen verfaßt. Aber nicht diese will ich jetzt würdigen, sondern eine Kindheitserinnerung aus dem Ersten Weltkrieg, bei der sich Haills Tugend erweist, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen. Damals, 1915, mußten russische Kriegsgefangene einen alten Wasserspeicher am Linzer Römerberg instandsetzen. Mit einem der jungen Männer, Porfiri Oleschko, freundete sich die elfjährige Jettel an. Porfiri erzählte ihr von seinen Eltern, den Geschwistern, der Not zu Hause in Odessa und davon, daß er im Krieg, aus revolutionärer Überzeugung, nicht auf die österreichischen Soldaten geschossen habe. Nach beendeter Arbeit, ehe der zerlumpte Trupp wieder abgezogen wurde, küßte er die rauhe, rissige Hand ihrer Mutter und strich dem Mädchen übers Haar, während er ihr seine Wahrheit zuflüsterte: „Du darfst nicht vergessen Porfiri Oleschko, einmal nicht mehr Krieg, einmal alle Brüder.“ Haill sah ihn noch einmal, nach Wochen, auf einem Gerüst am neuen Linzer Dom, wo die Gefangenen Handlangerdienste verrichten mußten. „Ich winkte und rief nach ihm, er aber sah und hörte mich nicht. Er stand und blickte nach Osten, wo in weiter Ferne Brüder einander immer noch töteten und seine arme, verwüstete Heimat lag.“
CHRISTKINDL, BESITZANZEIGEND Elektropost aus einer Heimat, die weder arm noch verwüstet ist, genau hundert Jahre später. Erstens: „Sehr geehrter Herr Hackl, wir möchten keine Flüchtlinge in unserer Christkindlsiedlung. Wir sind ganz sicher, dass Ihre Mutter das auch nicht gewollt hätte. Mit freundlichen Grüßen Ihre Gegenübernachbarn Von meinem iPhone gesendet Anonymisierung Anonymisierung 4400 Steyr“. – Zweitens: „Sehr geehrter Herr Hackl! Ich habe von Ihrem direkten Nachbarn in der Goldbacherstrasse, Steyr Herrn Schober erfahren, dass Sie überlegen im Haus Ihrer verstorbenen Mutter Asylanten oder Flüchtlinge unterzubringen. Ich möchte Ihnen – nachdem ich Sie bislang nicht erreichen konnte – auf diesem Weg mitteilen, dass ich in unserer Siedlung keine Flüchtlinge oder Asylanten einquartiert haben möchte und ich mir das auch offen zu sagen traue. Mit freundlichen Grüßen aus der Wegererstraße Mag. Anonymisierung Wegererstraße 4400 Steyr“.
DEFINITIONEN Die erste stammt vom spanischen Dichter Antonio Machado, der in der andalusischen Metropole Sevilla aufwuchs und in der kastilischen Kleinstadt Soria seine Erfüllung fand. Uno es de donde nace al amor, no a la vida, lautete seine Botschaft. „Einer ist von dort, wo er zur Liebe erwacht, nicht zum Leben.“ Den zweiten Satz hat Machados Landsmann Max Aub geschrieben, der in Paris geboren und im mexikanischen Exil gestorben ist: Se es de donde se hace el bachillerato. „Man ist von dort, wo man die Matura macht.“ Wo man also erste Bindungen außerhalb des Elternhauses eingeht, nach Orientierung sucht, das Bewußtsein von Recht und Unrecht schärft, Wissen und Ohnmacht im Umgang mit Lehrern und anderen Erwachsenen erfährt. Die dritte schlüssige Definition hat der Dramatiker Heiner Müller gegeben, im Monolog „Ajax zum Beispiel“, sie lautet kurz und bündig: „Heimat ist/ Wo die Rechnungen ankommen sagt meine Frau“.
EINMAL NOCH ...schrieb mein Vater am 13.3.1982 auf ein Blatt Papier, unter der Überschrift „Gedanken in der Intensivstation“... „möchte ich vorm Haus auf der Gasse beim Wasser spielen/ neben dem Fluder kleine Wasserräder laufen lassen/ in der Hammerschmiede spielen, den Wasserrädern zuschauen/ mit Onkel Hans den Wehrkanal bis zur Weißen Aist abgehen/ am Sonntag vorm. während des Hochamtes den Reiterweg mit meiner Großmutter begehen/ mit meiner Mutter die Gärten spritzen/ Mit Tante Gusti in die Maiandacht gehen/ in der Mühlkammer Holz bearbeiten u. basteln/ auf dem Mühlboden alte Bücher und Schriften anschauen und lesen/ dem Müller Onkel Max in der Mühle helfen/ auf dem Mühlanger herumlaufen und in der Waldaist baden/ meiner Mutter beim Brotbacken im großen Backofen helfen/ im Herbst bei der Flachsbearbeitung mithelfen/ Freunden und Gästen in der großen Stuben an langen Winterabenden zuhören/ möchte ich Wiesen, Felder und den Wald begehen/ dem Köhler das Essen bringen und beim Kohlenziehen helfen/ den Handwerkern zusehen und kleine Hilfsdienste leisten/ einmal noch möchte ich ein Kind sein wie vor 56 Jahren!“
FREUDE Noch eine Begriffsbestimmung, von der Malerin Therese Eisenmann, die in Neumarkt im Mühlkreis lebt und arbeitet: „Freude - das ist doch auch dort, wo Heimat ist.“
GEFANGENSCHAFT Aber ihr vor sieben Jahren verstorbener Kollege, der Bildhauer Josef Pillhofer, hielt es für möglich, daß „auch eine Gefangenschaft im kleinsten Raum Heimat werden“ könne. Das erinnert mich an die Berichte der Steyrer Arbeiter Franz Draber und Josef Bloderer, die wegen ihrer Widerstandsaktionen gegen das Naziregime verhaftet und zum Tod verurteilt wurden. Fast zwei Jahre lang waren sie in der Strafanstalt München-Stadelheim eingesperrt, 200 Tage allein in der Todeszelle, was bedeutet, daß sie zweimal pro Woche – die Hinrichtungen fanden immer dienstags und donnerstags statt – gewärtig sein mußten, unters Schafott gezerrt zu werden. Trotzdem richteten sie sich, Draber vor allem, in der Zelle so gut wie möglich ein, hielten sich mit Jiu Jitsu in Form, diskutierten geschichtliche und philosophische Fragen und reparierten den bayrischen Gefängniswärtern Fahrräder und Bienenkörbe. Nach einem Bombenangriff Ende November 1944 gelang ihnen durch eine unversperrte Pforte die Flucht nach draußen. In zehn Nächten schlugen sie sich, getrennt voneinander, bis in die Steyrer Gegend durch, wo sie die Befreiung erlebten. Draber hat mir erzählt, wie viel Überwindung es ihn kostete, außerhalb der Gefängnismauern nicht stehenzubleiben, als Schüsse knallten und ihm die Wärter hinterherriefen: Draber, sei nicht dumm, mach dich nicht unglücklich, bleib stehn! Für einen schauderhaft langen Moment hätten ihm seine Beine nicht gehorcht. Das wirft die Frage auf, ob nicht auch der Trägheit, im physikalischen Sinn, Heimat eignet.
HEIMWEH Frage Nr. 5 aus Max Frischs „Fragebogen“ zum Thema Heimat: „Gesetzt den Fall, Sie wären in der Heimat verhaßt: könnten Sie deswegen bestreiten, daß es Ihre Heimat ist?“ Eine Antwort darauf hat Fritz Kalmar gegeben, in einer seiner „Heimwehgeschichten aus Südamerika“, die er unter dem Titel „Das Herz europaschwer“ veröffentlicht hat. Darin wird erzählt, wie im fernen Bolivien die aus Wien vertriebenen Juden Anfang 1945 in helle Aufregung gerieten, als sie von den Luftangriffen auf die Stadt erfuhren. In ihrem Urteil waren sie gespalten; während die einen die Zerstörungen für einen Akt der Barbarei hielten, erschienen sie den anderen als logische Folge der Naziherrschaft und der Gesinnungslumperei der Bevölkerung. Unter den Diskutanten saß ein alter Mann, Herschel Goldglas nennt ihn der Autor, der in Wien ein schlecht gehendes Kurzwarengeschäft geführt hatte, von den Nazis erniedrigt und verhöhnt worden war und in La Paz nur dank der Hilfe seiner Landsleute überleben konnte. Goldglas schwieg, er hörte sich nur an, was die Leute sagten. „Aber auf einmal brach es aus ihm heraus, eine Explosion war das. ‚Zerstören sollen sie es!’ schrie er, dieser stille Mensch schrie, brüllte beinahe, ‚zerstören, zerschlagen, vernichten, bis nix mehr übrig bleibt als ein Haufen Trümmer, und dort sollen sie ein Taferl aufstellen, auf dem steht Hier war Wien!’. In diesem Moment hielt er inne, schlug beide Hände vor die Augen und schluchzte, heulte: ‚Aber zu dem Taferl möchte’ ich hinfahren, zurück dorthin und nie mehr weggehen von dort, mein Lebtag nie mehr weggehen!’ Tränen rollten über seine Wangen, er weinte, schämte sich dessen und rannte davon.“
IDYLLE Was der Kommunistin Haill das Mühlviertel, ist ihrem Genossen Franz Kain das südliche Salzkammergut gewesen: Landschaft, die seinem Wesen entsprach, nicht weil er sie, wie Haill, aus freien Stücken erwählt hatte, sondern weil er in sie hineingeworfen worden war. Sie gefiel ihm, aber er hielt sie weder für lieblich noch für idyllisch, denn, so schrieb er über sich in der dritten Person, „er weiß zu viel von ihr“.
JUBELN „Zirkusgasse! Heimat!“ jubelte Fritz Kalmar, als wir von der Schrottgießergasse in die Zirkusgasse einbogen. Fritz war damals neunzig, er lebte seit 1939 im Exil, verbrachte aber jedes Jahr mehrere Wochen in seiner Geburtsstadt Wien. In der Zirkusgasse hatte er mit seiner Mutter und seinen Brüdern gewohnt, von hier aus war er jeden Morgen über Donaukanal und Rudolfsplatz ins Wasagymnasium gegangen, an dessen Fassade heute eine Tafel an ihn erinnert. Schräg gegenüber dem Wohnhaus hatte sein älterer Bruder ein Kaffeehaus betrieben, das nach der Annexion Österreichs arisiert und umbenannt worden war: von Café Mignon in Café München. Aus Fritz’ Mund klang der neue Name wie ein Peitschenhieb. Auf derselben Straßenseite wie das Wohnhaus hatte sich der Türkische Tempel befunden, eine Synagoge, die in der Pogromnacht geschändet und niedergebrannt worden war. Jetzt stand dort ein Gemeindebau aus den achtziger Jahren. Das einzige Gebäude in der Straße, das noch genauso aussah wie in seiner Jugend, und dem gleichen Zweck diente, war das Stundenhotel an der Ecke Schmelzgasse: Erkennungsmerkmal der Heimat für einen Vertriebenen, der sie bejubelt.
KOMMUNISMUS Während der Vorführung des Films „Über die Jahre“, des österreichischen Regisseurs Nikolaus Geyrhalter, mußte ich an ein Bonmot aus der Zeit des Kalten Krieges denken, das Johannes Bobrowski einmal zitiert hat: „Kommunismus ist, wo allen alles gehört und niemand etwas hat.“ Die Menschen, die Geyrhalter über zehn Jahre gefilmt hat, leben im nördlichen Waldviertel. Zu Beginn der Dreharbeiten, 2004, sind sie die letzten Arbeiter einer Textilfabrik, die kurz darauf geschlossen wird. Ihre Ansprüche an das, was man für gewöhnlich das Leben nennt, sind – gemessen an den „Herausforderungen“, mit denen der Kapitalismus die Menschen traktiert – in ihrer Bescheidenheit derart subversiv, daß einem der Gedanke kommt, sie könnten sich nichts Besseres wünschen als den Kommunismus.
MACHADO Noch einmal der Dichter Antonio Machado: Se canta lo que se pierde. „Man besingt, was man verliert.“ Die Kindheit, die Liebe, die Heimat, oder was man für sie hält.
NESTBAUEN ODER ZELTAUFSTELLEN Eugenie Kain zufolge, der Tochter des Schriftstellers, die selber eine bedeutende Schriftstellerin war, lassen sich zwei Menschentypen unterscheiden: die Nestbauer und die Zeltaufsteller. Mit den Nestbauern, die ihre Häuser in die Landschaft klotzen, sie umzäunen und mit allerlei Schöner Wohnen-Zeug, „Hier wache ich“-Schildern und Alarmanlagen drapieren, konnte sie sich nicht anfreunden; das Zelten dagegen war ihr lieb und vertraut. Unterwegs sein, „daheim im Reisen – und auf der Hut“, das war Eugenies Praxis wie Programm. Ans Wohnen stellte sie keine großen Ansprüche – ihr genügten ein Küchenradio, ein großer Eßtisch, ein eigener Schreibtisch, Platz für Bücher, ein ruhiger Raum zum Schlafen.
ORIGINALE Vor neunzig Jahren hat der junge Ernst Fischer sich an der Provinz abgearbeitet, an der Kleinstadt, die ihm im Gegensatz zur großen nichts, oder nur Abstoßendes, bedeutete, und mir scheint, sein harsches Urteil ist nicht überholt: „Hier in der Provinz, wo sich das Leben langsam im Kreise dreht, ist jeder, da große Aufgaben, lodernde Horizonte fehlen, immerfort mit sich selber beschäftigt, hier wuchert der Individualismus, hier wird man zum Original, weil es das einzige ist, was man werden kann. Der Pensionist, der Raunzer, der Nörgler, er ist das Urbild des Originals, und mannigfaltig variiert beherrscht der Typus die Stadt. Wunderliche Gestalten, geisterhafte Figuren, Sonderlinge und Eigenbrötler aller Art treiben sich in den Kaffeehäusern, in den Gärten und Gassen umher, und der Schatten, den sie werfen, ist grotesk, phantastisch, unwahrscheinlich. Kleine Absonderlichkeiten blähen sich auf und werden zur Weltanschauung, eifersüchtig wacht jeder von diesen Aposteln seiner selbst darüber, daß keiner ihm nachahme, keiner ihm ähnlich sei. Nirgends gibt es so selbstbewußte, so selbstgefällige Narrheit wie in der Provinz.“
PERIPHERIE Der Schriftsteller Alberto Nessi ist im Mendrisiotto aufgewachsen, dem südlichsten Zipfel des Tessins, hart an der italienischen Grenze, der lange das Armenhaus der Schweiz war - die Männer suchten Arbeit in den Marmorsteinbrüchen von Carrara, von wo sie mit Staublungen zurückkamen, oder wanderten nach Amerika aus, die Frauen verdingten sich in den Städten als Ammen oder Küchenhilfen. Man könnte also sagen, daß das Mendrisiotto an sich schon Peripherie war, geografisch wie sozial. Aber bereits als Jugendlichen zog es Nessi an die Peripherie dieser Peripherie, in das Niemandsland zwischen Fabrik, Halde und Gestrüpp, das ihm „ein Ort der Entdeckungen“ war. Geheimnisvoll, ungebunden, frei. Davon ist nichts geblieben. „In meiner Umgebung wohnt heute an der Peripherie die Feindseligkeit. Jene Feindseligkeit, die wir dem Fremden entgegenbringen, wenn er die Grenzen heimlich überschreitet. Das ‚Unbekannte’, das ich in meiner Jugend gesucht habe, ist heute anderswo zu finden: in den Augen der Einwanderer, die ferne Wüsten und Meere gesehen haben, im kleinen Jungen aus Sierra Leone, der neben mir wohnt, in den Erlebnissen der Frau aus dem Iran, die ihre Heimat verlassen musste, in der Geschichte von Karuna, dem Flüchtling aus Sri Lanka, der in einer Fabrik im Mendrisiotto arbeitet, in den Gesichtszügen des bosnischen Mädchens Alma, das vor dem Krieg geflohen ist und nun mit meiner Tochter zur Schule geht. Die neue Peripherie sind sie. Sie sind es, die Geschichten zu erzählen haben. Doch in diesen Geschichten spiegelt sich nicht mehr die Poesie des Geheimnisvollen, sondern das Drama der Entwurzelung.“
STIMMUNG In einem nachgelassenen Gedicht bringt Franz Xaver Hofer zur Sprache, was ihn zeitlebens geprägt hat – ohne daß er den Begriff, Prägung, überhaupt verwendet. Er kommt auch ohne die geläufigen Synonyme wie Herkunft, Wurzeln, Kindheit, Formung oder Heimat aus. Das Wort, das er stattdessen setzt, ist in seiner Verhaltenheit viel schöner:
Ich komme aus dieser Stimmung.
Woanders komme ich nicht her.
Ich gehe wohin, ohne das Woher
vergessen zu können oder zu wollen:
Ich komme aus der Stimmung
des Kornspeichers
der Scheune
des Kellers
und der schwarzen Selchkammer.
TOTSCHLAG Ein anderer Mühlviertler Autor, Bauernsohn wie Hofer, der die Torheiten des heutigen Landlebens grimmig benennt und, stets gefährdet, darüber zu verzweifeln, die Fülle handwerklicher und bäuerlicher Verrichtungen rühmt, ist Richard Wall: „Wer sagt, das Einfamilienhaus ist eine Brutstätte von Mord und Totschlag, gehört nicht zu uns! Also, wohin gehöre ich?“
VAGABUND Der größte soziale Dichter dieses Landes, Theodor Kramer, hat den Vagabunden – einem Menschenschlag angehörig, der bei uns offenbar ausgestorben ist – wie allen Menschen am Rand jene Gerechtigkeit widerfahren lassen, die ihnen von den Behausten vorenthalten wurde, und in ihrer Bedürftigkeit, Verzweiflung, Verworfenheit, aber auch in ihrem Stolz ernst genommen. Die Publizistin Daniela Strigl verweist darauf, daß in Kramers Gedichten Heimat nicht als Vorrecht der Bodenständigen erscheint, sondern auch den Landstreichern, Stromern, Vaganten zugestanden wird, und zitiert ein Rollengedicht Kramers über einen im Burgenland umherziehenden Vagabunden, der darauf besteht, das Land genauso zu lieben wie der Bauer – und sich durch das Verständnis, das er für ihn aufbringt, sogar ein Stück weit über seinen Kontrahenten erhebt:
Wie viel es, Bauer, sind, die mich vertreiben;
an dir allein versteh ich Haß und Ruh.
Ich lieg, der Erbfeind, hier vor deinen Scheiben,
und liebe doch das Land so tief wie du.
(...)
Vielleicht muß einer düngen, pflügen, graben
und ein Erhalter und Bewahrer sein,
ein andrer aber nichts als Beine haben,
die rastlos fallen in ein Schreiten ein.
WEITE UND WÜRDE In einem Gespräch über seinen Film „Seit die Welt Welt ist“, der auch hier in Freistadt gelaufen ist, hat Günter Schwaiger staunend festgestellt, daß Weite sich erst dann einstellt, wenn man die Nähe sucht. „Je näher man einer Figur kommt, desto mehr erweitert sich der Horizont. Je tiefer man in den Mikrokosmos dringt, umso größer wird der Makrokosmos. Die Figur von Gonzalo, die familiäre Beziehung, das Dorf, die Entvölkerung, die Landschaft – all das zusammen stellt etwas Universelles dar. Je länger wir dort arbeiteten, umso klarer wurde mir, daß dieses Dorf für so vieles symptomatisch ist, was nicht nur in Kastilien, sondern in der ganzen Welt passiert.“ Nehmen wir Schwaiger den Ausrutscher, seinen Protagonisten Gonzalo Martínez Arranz zur „Figur“ degradiert zu haben, nicht weiter übel; beeindruckend an dem Film ist nämlich gerade die mitgeteilte Tatsache, daß er durch den langen, geduldigen Blick auf einen oder einige Menschen, die er durch den Alltag und in der Arbeit begleitet, die Welt zu sehen hilft. Aber da ist noch etwas, das Mitgefühl nämlich, ohne das es keine Kunst gibt. Es prägt auch zwei andere Dokumentarfilme, die mich in letzter Zeit tief beeindruckt haben, Geyrhalters „Über die Jahre“, den ich bereits erwähnt habe, und Volker Koepps „Landstück“, über Natur, Glück und Ökonomie in der nordostdeutschen Uckermark. Es ist im Rahmen des diesjährigen Festivals zu sehen. In allen drei Filmen wird sichtbar, was sich selten offenbart: Würde. Die Würde im Widerstand, müßte man hinzufügen, gegen die hegemonial gewordene Auffassung, daß es im Leben darum geht, den Nutzen zu maximieren, dem Leiden anderer gegenüber indifferent zu bleiben. Alle Erfahrung abzustoßen, die der Geldvermehrung nicht dienlich ist. Der Druck wächst, sich in eine bloße Kauf-, Konsum-, Tauschwertmaschine zu verwandeln. Das ist, nebenbei gesagt, auch der Grund dafür, daß viele in ihrer Enttäuschung oder Verwirrung die falschen Schlüsse ziehen und, selbst bedürftig, die Bedürftigen zu ihren Feinden erwählen. Anders die Helden, Heldinnen dieser Filme. Ihnen zuhören, sie ansehen zu können, auf der Leinwand, im Kinosaal, weckt in mir:
ZUVERSICHT die wenigstens für die Dauer der Vorstellung und einige Stunden, Tage danach anhält. Schwer zu sagen, ob das viel ist oder wenig, in dieser Zeit.